Erwachsenenalter

Essen - warum ausgerechnet Essen? Ich glaube, das ist die eine Frage, die ich mir in den folgenden drei Jahren am meisten gestellt haben dürfte. Dabei ist die Antwort ganz einfach: Kurzschluss-Reaktion.

Einige Monate nachdem ich meine Ausbildung abgebrochen und den Job als Administrator angenommen hatte, geschahen Dinge, die die Firma in den Konkurs trieben. Mein Leben, das durch verschiedene Umstände reichlich aus den Fugen geraten war und das durch den Job und die damit verbundene Sicherheit etwas stabilisiert wurde, stand plötzlich wieder auf wackligen Beinen. Die sich zuspitzenden Konflikte mit meinem Vater zu Hause und ein Gefühl, nirgendwo richtig hinzupassen in der Gesellschaft führten dazu, dass ich nach Auswegen suchte. Und in dem Moment, als sich einer manifestierte, schlug ich zu. Ein Bekannter bot mir an, mit ihm eine WG zu gründen, zumindest so lange, bis ich wieder einen klaren Kopf haben würde und/oder selbst Fuß gefasst hätte. Ich sollte drei Jahre bei ihm leben.

Ich hatte in den Jahren davor gelernt, mit der Wut, die sich in den Gymnasiums-Jahren in mir angesammelt und sich nicht selten in Jähzorn-Ausbrüchen manifestiert hatte, umzugehen. Beziehungsweise ist “damit umgehen” vermutlich zu viel gesagt ist - ich schluckte sie herunter, ignorierte sie, zwang mich, alles äußerlich ruhig hinzunehmen ohne direkt zu explodieren. Gesünder wäre es vermutlich gewesen, die Wut nur zu verzögern, bis ich mich abreagieren konnte, ohne jemandem zu schaden. Die Erkenntnis kommt leider zu spät.

Auch gelernt hatte ich, dass meine Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf andere Menschen und deren Akzeptanz am einfachsten für mich zu handhaben sind, indem ich versuche, mich jedem gegenüber so zu verhalten, wie ich glaubte, dass dieser es erwarten würde. Ich war nie ein unhöflicher Mensch, habe schon mein ganzes Leben lang Wert darauf gelegt, gewisse Umgangsformen einzuhalten, weil ich sie selber als angenehm und wünschenswert empfand. Jedoch hatte ich das Ganze ins Extrem getrieben und versuchte unterbewusst, jedem zu gefallen, um Enttäuschungen und Konflikten aus dem Weg zu gehen.

Man mag sich fragen, wieso. Ich kann es nur vermuten. Ich hatte schon immer Schwierigkeiten, das Verhalten von Menschen zu verstehen. Während Emotionen nahezu ungefiltert auf mich einprasselten (wenn jemand weinte, stiegen mir die Tränen in die Augen; wenn jemand wütend war, ballte ich die Fäuste; wenn Leute lachten und glücklich waren, war ich es auch), überforderten mich die komplett unverständlichen und unvorhersehbaren Reaktionen auf allen anderen Ebenen. Wieso verstanden andere oft nicht das, was ich sagte, sondern etwas, von dem sie glaubten, dass ich es meinte? Wieso sagten sie etwas, meinten aber etwas ganz anderes? Wann meinte jemand etwas ernst und wann scherzte er? Und warum wurde manches was ich sagte als unpassend empfunden, wenn es doch der Wahrheit entsprach? Die feinen Nuancen der menschlichen Kommunikation waren für mich immer eine Hürde. Dazu kam, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als so spontan und wortgewandt zu sein wie viele andere. Antworten auf unerwartete Fragen, über die ich minutenlang nachdenken musste, kamen bei anderen wie aus der Pistole geschossen. Wenn ich das versuchte, redete ich nur unpassenden Unsinn.

All diese Unsicherheiten und Verständnisprobleme führten nach und nach dazu, dass ich Mechanismen entwickelte, um genau diese Schwächen auszugleichen und vor anderen zu verstecken, denn sie boten Angriffsoberfläche. Ich unterdrückte viele meiner Emotionen, denn damit konnte ich auch bedingt verhindern, dass ich die Emotionen anderer spiegelte und selbst viel stärker als meine eigenen fühlte. Ich ging alle möglichen (auch die unwahrscheinlichen) Abzweigungen von bevorstehenden Gesprächen im Kopf durch und fand schon im Voraus die passendsten Antworten auf die meisten davon. Teilweise lag ich nächtelang wach, weil in meinem Kopf innere Monologe und Dialoge möglicher Gesprächspfade in Dauerschleife abliefen. Das gab mir dann im Gespräch einen Anschein von Spontanität und Schlagfertigkeit und mir bescherte es ein wenig weniger Panik vor dem Kontakt mit Menschen. Die Verständnisprobleme bezüglich der Feinheiten der menschlichen Kommunikation bekam ich damit zwar leider nicht in den Griff, konnte aber auch da mit jedem Tag ein wenig mehr lernen, Situationen besser einzuschätzen und zu lernen, in welchem Kontext manche Dinge dies, in anderen Kontexten aber jenes bedeuteten. Ein unglaublich komplexes Gespinst aus wenn-dann-sonst-Verknüpfungen im Kopf, das permanent Aufmerksamkeit erfordert, aber mich halbwegs sicher durch den Tag navigiert.

Zurück nach Essen. Nach einigen Wochen, die ich brauchte, um überhaupt erstmal die neue Umgebung und den neuen Mitbewohner kennenzulernen und mich zu akklimatisieren, suchten wir gemeinsam neue Jobs. Er war langzeit-arbeitlos, Dauerkiffer und mindestens genauso unsortiert wie ich. Wir bewarben uns beide bei Medion als Hotline-Mitarbeiter: Ich wurde angenommen, er nicht. Bei ihm blieb es leider auch bei diesem einen Versuch, geregelte Einkünfte zu erzielen, in den folgenden Jahren war es meist ich, der den Kühlschrank füllte.

Der neue Job war spannend, aber stressig. Die Lernkurve war auf technischer Ebene nicht sonderlich steil für mich, denn mit Computern und Windows im Speziellen kannte ich mich hervorragend aus, oft besser als so manch alteingesessener Kollege. Aber wie man mit Kunden am Telefon umgeht, wie man ihnen die Informationen, die man braucht, um ihnen zu helfen, herankommt und nicht nur an die, von denen sie glauben, dass sie relevant sind, das wusste ich nicht. Dieser Teil der Lernkurve war steiler als alles, was ich bisher kannte. Ich lernte, Menschen zu verstehen; nicht das, was sie sagten, sondern das, was sie nicht sagten. Und das alles unter Zeitdruck. Wenn ab und zu mal ein Gespräch länger als 10 Minuten dauerte wurde das noch geduldet, wenn es täglich passierte wurde ermahnt, wenn es mehrfach am Tag passierte gab es ernste Gespräche. Und so lernte ich auch, schnell zum Punkt zu kommen, ohne meinem Gegenüber das Gefühl zu geben, dass er oder sie in der Schnellabfertigung gelandet ist. Alles Skills, die mir bis heute gute Dienste leisten. Und bei allem: Immer freundlich bleiben, egal wie wütend mein Gesprächspartner ist. Check. Hatte ich in den Jahren zuvor ja gelernt.

Der Stress, der mit der Beschäftigung in der Hotline kam, wäre vermutlich für mich nicht handhabbar gewesen, aber mir kam an dieser Stelle sehr zugute, dass mein Mitbewohner anfangs immer Cannabis im Haus hatte. Man mag darüber denken wie man will, aber um einen ruhigen Kopf zu bekommen, nachdem man einen stressigen Tag hatte, hilft es. Und so wurde auch ich nach kurzer Zeit zum regelmäßigen Kiffer. Anfangs nur ab und zu nach der Arbeit, dann jeden Abend, irgendwann rauchte ich auch vor der Arbeit zu Hause noch einen halben Joint, um ruhig und gelassen die Schicht zu beginnen. Ich war im Team auch nicht der einzige, der sich auf diese oder ähnliche Art das Arbeiten erleichterte. Mit der Zeit wurde zudem auch das Leben mit meinem Mitbewohner zunehmend zur Belastung, da er mehr und mehr die Kontrolle über sich, sein Leben und seine anger issues verlor, die ich selber ja bereits in den Griff bekommen hatte. Da half auch kein Kiffen mehr und als bei einem seiner Wutanfälle eines Tages mein Handy an der Wand zersplitterte zog ich die Reißleine. Ich zog für ein halbes Jahr zu einem Arbeiskollegen nach Bochum, kündigte kurz darauf und zog relativ spontan wieder in meinem Elternhaus ein.

Eine spannende Entwicklung, aber das sei hier nur am Rande erwähnt, ergab sich zwischen mir und meinem Vater, nachdem ich Jahre zuvor ausgezogen war. Unser Verhältnis besserte sich quasi über Nacht, die ganzen Reibereien, die wir hatten, waren vergessen und nicht mehr existent. Sie kamen auch nicht wieder, als ich wieder zu Hause einzog und den Keller in Beschlag nahm, den mein Vater eigentlich als sein Arbeitszimmer eingerichtet hatte.

Lange sollte das Wohnen bei der Familie auch nicht währen, ich verliebte mich und zog nach Bremen zu meiner Angebeteten. Dort hielt ich mich ein weiteres Jahr in einer Hotline über Wasser und begann dann meine erste ernsthafte Ausbildung als Fachinformatiker für Systemintegration - tatsächlich meine zweite Wahl, aber Anwendungsentwickler gab es offenbar schon genug. Die drei Ausbildungsjahre verliefen relativ ereignislos, in der Berufsschule lieferte ich gute Noten ab, langweilte mich zu Tode, hatte mit einigen Lehrern eine Art stumme Vereinbarung, dass ich nicht jede Fehlstunde eingetragen bekomme, solange meine Noten nicht absacken, und so verbrachte ich viel Zeit in der IT-Abteilung der Firma, teilte mein Wissen mit den anderen Auszubildenden, hielt die Infrastruktur am Laufen, setzte die Wünsche meiner Kollegen wenn möglich um und lernte allerlei über die internationale Vernetzung von Standorten, den Betrieb von SAP-Systemen und auch, wie man mit dem einen oder anderen Ausfall von Teilen der Infrastruktur umgeht. Ein kleiner Ausblick auf meine spätere Laufbahn im Incident Response? Vielleicht…

Die Beziehung endete, andere kamen und gingen und auch die Ausbildung ging irgendwann zu Ende. Ein 2er-Schnitt, nicht schlecht, hätte eine 1 überall sein können, wenn ich gelernt oder mich angestrengt hätte. Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen. Dieses “mich zu etwas zwingen” war schon immer ein Problem, auf allen Ebenen. Schule, Beruf, Beziehung, Alltag. Dinge, die ich nicht als direkt sinnvoll oder zielführend erkannte, vernachlässigte ich. Aufgaben, die mir Spaß machten, waren dagegen eher Selbstläufer. Alles, was sich stumpf wiederholte war mein Todfeind, vermutlich auch einer der Gründe, warum ich selber rückblickend nicht sonderlich beziehungsfähig zu sein scheine und auch den Arbeitgeber recht regelmäßig nach 2-4 Jahren wechselte. Am Anfang ist alles spannend, aber nach Monaten bis Jahren stellt sich Routine ein. Und Routine vertrage ich nicht.

So auch mit der Ausbildungsfirma. Drei Jahre Ausbildung waren beendet und ich freute mich auf mehr Verantwortung und mehr Entscheidungsmöglichkeiten in der IT-Umgebung. Es kam anders, entgegen vorigen Absprachen bekam ich einen IT-Leiter vorgesetzt, mit dem ich weder menschlich noch fachlich auf einen Nenner kam und die Aufgaben blieben größtenteils dieselben. Dazu kamen nun auf Weisung des neuen Vorgesetzten viele strukturelle Vorgaben, die mir weder sinnvoll erschienen, noch in meine Arbeitsweise passten. Ich hatte aber auch gelernt, Dingen Zeit zu geben, da ich mich mit der Zeit an manches gewöhnen und anpassen konnte oder sich Situationen von alleine lösen. Und so blieb ich weitere drei Jahre in der IT, half meinen nachfolgenden Azubis, durch ihre Ausbildung zu kommen und versuchte, den IT-Leiter so gut es ging zu ertragen, zu ignorieren oder zu konfrontieren, wenn es ganz unerträglich wurde. Leider gab es diesbezüglich wenig Rückhalt seitens der Führungsebene und so gab ich schließlich auf.

Zu dieser Zeit geschahen mehrere Dinge, die mich seelisch aus der Bahn warfen. Der stärkste Faktor war der Tod meines Vaters, den ich jahrelang nicht verkraftet habe. Auch heute fällt es mir teilweise schwer, darüber nachzudenken. Ich hatte mir ungefähr in derselben Zeit bei einem Fahrradunfall einen Wirbel gebrochen und hatte die Aussicht, für den Rest meines Lebens mit Einschränkungen planen zu müssen, außerdem hatten meine damalige Freundin und ich uns frisch getrennt und es war keine von den ruhigen Trennungen, die zwar weh tun, aber sich richtig anfühlen. Sprich: Absolutes Gefühlschaos und die Aussicht auf eine ungewisse Zukunft, und es passierte das, was schon damals vor dem Umzug nach Essen passierte: Kurzschluss, Überschlagshandlung. Ich kündigte den Arbeits- und Mietvertrag und zog zu meinem damals besten Freund nach Berlin.

Kaum eingezogen wurde klar, dass die Wohnung für zwei Personen deutlich zu klein war. Da das Zusammenleben ansich aber gut zu funktionieren schien, beschlossen wir, eine WG mit zwei weiteren Menschen zu gründen. Gesagt, getan, es entstand eine WG, die über die Jahre eine hohe Mitbewohner-Fluktuation hatte und bei der ich am Ende der letzte verbliebene ursprüngliche Mieter war.

Während der WG-Zeit wurde klar, dass mit mir etwas nicht stimmte. Psychisch, seelisch, generell. Meine beste Freundin, die auf der anderen Seite Deutschlands lebte, nahm sich das Leben und meine emotionale Reaktion darauf blieb nahezu komplett aus. Die primäre Gefühlsregung war Unmut darüber, dass ich mir nun für den nächsten geplanten beruflichen Aufenthalt in der Region eine Alternativplanung für das dazwischenliegende Wochenende überlegen müsse. Nur ein Anflug von Trauer, der Verlust kam bei mir emotional nicht an. Mein nächster Weg war dann der zum Hausarzt, der eine mittelgradige Depression vermutete und mich zum Psychiater überwies, der dann exakt diese Diagnose stellte. Es folgten Jahre des Ausprobierens verschiedenster Antidepressiva, die ich allesamt körperlich nicht vertrug. Psychisch machten sie keinen Unterschied. An einen Therapieplatz zu kommen war schwierig und so landete ich kurzfristig zwar in einer Tagesklinik, die mich kurzzeitig stabilisierte, aber nach ein paar Monaten ging es mir wieder sehr schlecht.

Die Erkenntnis, die mich zum Facharzt trieb, war nur der Gipfel vieler Dinge, die mir in den Jahren davor, speziell in der Berliner Zeit, hätten auffallen können. Bereits in Bremen diagnostizierte ein Arzt Burnout, schwammig wie zu erwarten, und nahm mich für einige Wochen aus dem Arbeitsalltag. In Berlin hatte ich anfangs nur Schwierigkeiten, mich in Aufgaben einzuarbeiten und hatte keine weiteren Einschränkungen. Ich hatte einen großen Bekanntenkreis, mit dem ich viel unterwegs war und hatte Spaß daran, mich mit Menschen zu umgeben. Ich hatte acht Jahre lang in Bremen eine Großcommunity betreut, die meine damalige Partnerin und ich ins Leben gerufen hatten und die am Ende über 2000 Mitglieder zählte. Ich war den Umgang mit Menschen inzwischen gewohnt und hatte gelernt, wie ich mich zu verhalten hatte, um akzeptiert zu werden. Doch in Berlin ebbte der Menschenkontakt mit den Jahren immer mehr ab. Wo ich anfangs fast jedes Wochenende mit den WG-Mitgliedern, Freunden und Bekannten feiern war, Festivals und Konzerte nicht nur besuchte, sondern im Rahmen der gemeinsamen Band auch auftrat, zog ich mich mit der Zeit mehr und mehr zurück, verließ selten das Haus und trat aus der Band aus. Beruflich war ich seinerzeit als Penetrationstester tätig und mir fiel immer öfter auf, dass ich die anfallenden Berichte nur unter größter Überwindung schreiben konnte; am Ende schaffte ich es nicht einmal mehr, die Vorlage zu öffnen und den Namen des Kunden einzutragen. Die WG ging in die Brüche, da ich den Anforderungen der anderen Mitbewohner nicht mehr gerecht werden konnte und diese nicht damit umgehen konnten, dass ich aktuell nicht anders kann als mich zurückzuziehen. Ich zog aus, was (meinerseits unbeabsichtigt, aber nicht änderbar) das Ende des Mietvertrages für die ganze WG bedeutete.

An dieser Stelle war ich durch die Depressionen teilweise schon so gelähmt, dass ich es an manchen Tagen nicht mal mehr schaffte, das Bett zu verlassen. Der Arbeitgeber fing mich auf, war besorgt und gewährte mir die Freiräume, die ich brauchte, um trotzdem auf irgend eine Art weiter am Betriebsgeschehen teilzunehmen. Der Wechsel in andere Aufgabenbereiche und Abteilungen brachte kurzzeitig Erleichterung, aber auch das Verständnis und die Unterstützung von Vorgesetzten und Kollegen war überwältigend und nahm mir eine Menge meiner Ängste. Schließlich fand ich einen Therapeuten, der zwar nicht die erhoffte tiefenpsychologische Psychotherapie anbieten konnte, aber immerhin eine Gruppentherapie, die langsam aber sicher kleine Verbesserungen bewirkte und dies bis heute tut.