Der Weg zur Diagnose

Kaum hatte ich die Therapie begonnen, kam (wie in meinem Leben üblich) überraschend der seit Jahren eingeschlafene Kontakt zu einer alten Freundin aus Bremer Zeiten wieder zustande. Man tauschte sich aus und plötzlich lag das Thema ADHS auf dem Tisch. Sie sei diagnostiziert worden und seitdem ginge es ihr deutlich besser. Es kristallisierte sich heraus, dass sie mit ganz ähnlichen Dingen zu kämpfen hatte, die ich selber nur allzu gut kannte, aber nie als abnormal wahrgenommen hatte, denn ich kannte es ja nicht anders. Ich begann, mich mit der Thematik auseinander zu setzen und erkannte extrem viele Paralleleln zu meiner eigenen Vergangenheit und Gegenwart. Ich lernte, dass ADHS nicht auf magische Weise im Erwachsenenalter verschwindet, dass es eine unbekannte Dunkelziffer an undiagnostizierten Personen gibt und dass man auch als Erwachsener versuchen kann, eine entsprechende Diagnose zu bekommen, wenn man die Vermutung hat, betroffen zu sein. Das brachte mich dazu, mit einem neuen Arbeitskollegen zu sprechen, der ebenfalls diagnostiziert wurde und relativ offen mit der Diagnose umging. Über ihn bekam ich die Adresse eines Dacharztes für ADHS und verwandte Themen und viele Informationen zum Umgang mit dieser Krankheit. Spannend war auch zu erleben, wie viele andere Kollegen sich nach kurzer Zeit ebenfalls als bereits diagnostiziert oder mit einem starken Verdacht “outeten”. Einige sind wie ich erst durch diesen gemeinsamen Austausch das erste Mal damit zum Arzt gegangen und einige sind inzwischen ebenfalls diagnostiziert.

Lange Rede, kurzer Sinn: Mein bisheriger Psychiater, bei dem ich wegen der Depressionsthematik in Behandlung war, schloss ADHS bei mir kategorisch aus. Ich bat ihn, dennoch die entsprechenden Testreihen mit mir durchzugehen, welche ich dann auf eigene Kosten auch absolvierte. Und die Ergebnisse waren aus meiner Sicht relativ deutlich, selbst als Laie konnte ich die starken Abweichungen von vielen Prüfpunkten sehen. Mein Psychiater allerdings beharrte auf seiner Meinung, und so wechselte ich zu dem Facharzt, den mein Kollege mir nannte.

Nun hatte ich schon drei Testergebnisse in der Hand, meine Zeugnisse sowie einen Bericht meiner Mutter angefordert, in der sie ihr Erleben meiner Kindheit beschrieb und reichte alles dort ein. Mein erster Termin bei dem Doc war relativ kurz. Ich erzählte, was mich zu ihm führte und welche Beobachtungen mich zu meinem Verdacht brachten, während er die Testergebnisse und die anderen Unterlagen überflog. Nach nur wenigen Minuten unterbrach er mich, ich brauche nicht weiterreden, das sei schon ein ziemlich eindeutiger Fall von ADHS und da müsse man (in Richtung meines bisherigen Psychiaters gesehen) schon mehr als beide Augen zugekniffen haben, um keinen entsprechenden Verdacht zu haben. Ich bekam Medikamente, die ich ausprobieren sollte und wurde für einen Monat zum Laborkaninchen in begrenzter Eigenregie. Beim nächsten Besuch bekam ich den selben Wirkstoff, allerdings in der für Erwachsene zugelssenen retardierten Form und auf Kassenrezept.

Das Thema Depressionen und ADHS könnte laut dem neuen Psychiater durchaus stark miteinander verknüpft sein. Wenn die Psyche permanent durch auf sie einprasselnde Eindrücke, die nicht intuitiv verarbeitet werden können, sondern immer volle Konzentration erfordern, überlastet wird, kann sie mit depressiven Symptomen reagieren. Das bewirkt schlussendlich, dass man sich diesen Eindrücken nicht mehr (oder nicht mehr so stark) aussetzt. Allerdings kommen durch so einen Rückzug auch neue Stressauslöser wie Selbstzweifel, Zukunftsängste oder Einsamkeit hinzu, die wieder die Depression verstärken. Mit Sicherheit ist damit ADHS zwar nicht der einzige Faktor, der meine Depressionen ausgelöst hat, aber einer der wichtigsten.